Dienstag, 27. September 2011

Rezension: "Umm Nur" von Navid Al-Nemri

Er raunt von Dingen, die sich schon tausend Sänger wünschten: mehr als nur Schwüre, mehr als nur ein Hohelied.

15 Erzählungen enthält dieser Band - eigentlich sind es Traumsequenzen, Prosagedichte. Der Träumende, der Lyriker gibt ihnen den Zusammenhalt. Aus ihm heraus kommen sie. Seine Sicht geben sie wieder. Wir selbst sind überwältigt vom morgenländischen Düften und märchenhaft orientalischem Zauber. 

Mit leerer Bühne bliebt das Schauspiel zurück, schließt nicht, öffnet nie wieder, weil der Vorhang nicht fällt.

Jede Erzählung beginnt als Hohelied auf die Schönheit und die Liebe. Ein Mann beobachtet als ein Voyeur eine junge Ziegenhirtin. In einer anderen wird das Bild der geheimnisvoll unsichtbaren Umm Nur heraufbeschworen. Dort ein Vorleser, seine Stimme färbte alles dunkel ein, ein Violett im Safrangelb. Dieser Zauber aber dient dem Zwecke, zerstört und ausgestreut zu werden. Dem Mädchen geschieht das Schrecklichste. Die Liebe zu Umm Nur zeigt ihre gealterte Fratze. Der Vorleser wird getötet, doch die Stimme will nicht verstummen: Nun liest der Jasmin, wenn ich ihn atmen will, mein Reis, wenn ich ihn aufkoche, liest er mir vor. Seine Stimme ist in den Flammen, sie brennt Wort für Wort.

Nicht oft lesen wir Texte, die ausgesprochen vor uns erscheinen. Auch die schönsten alttestamentarischen Stellen sind nicht gelesene, sondern gehörte Worte. Al-Nemri ist ein Erzähler in dem ursprünglichsten Sinne. Sein Stil ist fragmentarisch, unbearbeitet und ordnet sich völlig der Sprechmelodie unter. Niemand spielt Trommeln in diesem Stück und der Pauker liegt wohl im Sterben. Ein tiefer Schlag, ein hoher folgt, gerade so schnell, wie das Herz einer Paukers, der stirbt. Es ist ein Text, dessen Bedeutung von einer Melodie getragen wird. Ein Durchgehen von Wort zu Wort ist nicht möglich. Zum Tanz fordern die Sätze uns auf. Ein Gedicht eben, wennn auch ein langes. Aber kurz sind auch die Klagelieder des Jeremias nicht.

Das Coverbild des halbverschleierten Mädchens mit dattelfarbenen Augen täuscht. Auch der Klappentext täuscht eine morgenländische Märchenwelt vor. Auf das Cover gehören die Bilder aus Syrien der Gefolterten und Hingerichteten, geblendet darüber das Bild von Assad. Die Bilder der Frau, die vor den Augen der Weltpresse von ihren libyschen Folterern fortgeschleppt wird.

Gäbe es diese Bilder von Al-Jazzira und BBC nicht, würde ich das Buch als das Werk eines von seinen Gesichten verfolgten Nervenkranken bezeichnen. Dergestaltige Gewaltphantasien beherrschen die Bilder der Schizophrenen in immerwiederkehrender Eintönigkeit: Schreckensbilder von gefolterter, verstümmelter Unschuld und Schönheit. Dokumentarisch genaue Aufzeichnungen des Mordens und Folterns. Bild für Bild aufzählend die Qualen der Hölle.

Aber es gibt diese Bilder aus Syrien. So ist Umm Nur ein verstörendes Stück Literatur geworden.

ISBN: 978-3-935259-84-2 für die Bestellung beim Buchhändler

Für das Freiexemplar bedanke ich mich beim Worthandel-Verlag

auf dem Autorenblog