Donnerstag, 9. Juni 2011

I.23 Die Odyssee

Dieses Buch besteht aus Einzelkapiteln. Ich könnte sie so oder anders aneinanderreihen. Ich habe keine Struktur. Teil I schreibe ich vor dem Publishing, Teil II über Publishing folgt nach. Das ist alles. Keine höhere Ordnung, kein Plan - nichts. Kapitel nach Kapitel, bis mir nichts mehr einfällt. Das Internet hat auch keinen Plan, sage ich. >Unsinn!<, höre ich rufen.

Gut, es gibt allerlei Ideenarchitekten, Gesellschaftsplaner und Welterklärer im Internet. Natürlich gibt es sie. Aber das Internet löst sie auf, hat zu jeder klaren Position eine ebenso klare Gegenposition, dazu 5 flüssig formulierte Unklarpositionen und mindestens 10 äußerst populäre Scherzpositionen. Wer im Internet ernsthaft Ideologie verbreiten will, wird nicht glücklich werden.

In den großen und kleinen Boards kann jeder ein Thema aufstellen. Alle sind eingeladen, in diesem Thread (engl. Faden, Gewinde) Beiträge zu verfassen. Die Beiträge sind kurz. Klick - sind sie eingestellt. Die Humoristen schreiben immer - die anderen bei Interesse oder Langeweile. Geschrieben wird viel von vielen. Gelesen wird nichts von keinem. Wäre zu mühselig, weil in einem Thread locker 100 völlig verquirlte Beiträge zusammenkommen. Alles wird nacheinander auf den Faden gezogen. Eine Ordnung gibt es nicht. Irgendwann wird der Thread vom Moderator geschlossen - der Faden oben zugeknotet. Es entsteht ein geselliges Stimmungsbild, ein kleine Bühne Witzaustausch. Vermutlich weiß am Ende keiner, worum es ging.

Solch ein Diskussionverlauf wäre im Real Life nicht möglich. Es würde unweigerlich eine Hierarchie entstehen zwischen Zuhörern und Rednern, zwischen Rednern und Hauptredner. Am Ende stände eine klare Position. Kann sein, dass Irrsinn hier Gestalt angenommen hätte. Aber am Ende wüßte jeder, was er zu denken hat.

Die Papierbücher sind ähnlich aufgebaut. Kein Schreiber beginnt, ohne eine klare Struktur zu haben. Diese wird mit Ort, Handlung, Tempo und Personen befüllt. In diesem komplexen Geflecht hat alles seinen Platz. Eins wächst aus dem anderen hervor. Kein Ding könhte ohne Sinnverlust umgetopft werden.

Muss das so sein? Nun, ein Computerspiel ist völlig anders aufgebaut. Ähnlich dem Ostereiersuchen gibt es ein paar Regeln und Grenzen, ansonsten kann jeder dezentral loslegen, wo und wie er will. Das Finden der Ostereier gehorcht keinem Plan. Jede Spielfigur kann auf viele Wege ans Ziel kommen.

Kann ich so Bücher schreiben? Ohne Frage. Große Bücher sind so geschrieben worden. Die Odyssee folgt einem Mann, der Abenteuer besteht, um irgendwann nach Hause zu seiner Ehefrau zurückzufinden. Klasse Idee, aber die Struktur ist sehr simpel, läßt sich mit jedem beliebigen Abenteuer für die Leser (und für die Ehefrau) füllen. Die Odyssee ist ganz ähnlich einem Computerspiel aufgebaut. Wenn wir die Sache mit der Ehefrau weglassen - was wäre der Unterschied zu Call of Duty oder World of Warcraft?

Jeder Autor hat seine Stärken. Wenn euch der Aufbau leicht fällt - bitte sehr. Wenn das nicht eure Stärke ist, macht es wie das Internet - legt los, irgendwo, irgendwie, ohne Ziel und ohne Plan!