Mittwoch, 8. Juni 2011

I.22 Was für eine Welt!

Wer lädt auf Facebook Fotos aus dem Familienalbum hoch? Keiner. Niemand im ganzen Netz mit einem Mutter-danke-für-alles-Lächeln. Die bravsten Mädchen: schrill, spontan, wild. Die bravsten Jungs: betrunken, kopfstehend, anzüglich. Ich muss auffallen - nicht gefallen!

Eine Welt der Posen. Eine Welt der Verkleidungen. Mein Ich ist eine Gestalt auf Zeit, auf Minutenbasis. Langeweile ist Rollenwechsel. Kann ich 400 Seiten lang Händchen halten mit meinem Ich? Und flösse die Sprache von innen heraus leuchtend wie bei Peter Handke - es würde an Versuchte Körperverletzung grenzen. >Versuchte< Körperverletzung, weil kein Internet-User klaren Verstandes sich dem aussetzen würde.

Es ist eine Welt, die keinen Ernst kennt. Derart verklemmte Stimmung setzt ein Ich voraus, das über einen längeren Zeitraum, sagen wir ein paar Stunden, kontaktierbar ist. Wenigstens ein Nachsendeantrag sollte möglich sein. Selbstzweifel setzen ein Selbst voraus. Ablenkung ist der natürliche Feind der Abneigung. Wer brächte noch Geduld für ein durchschnittlich haltbares Hassgefühl auf? Schreibe ich also handlungsbetont, nicht gefühlserweckend. Grüblerische Kommissare, weltverlassende Tragödinnen, beschildertes Siechtum - all das gehört auf gelbholziges Papier. Stauballergiker greifen zum Ebook.

Wer wandert auf Ländergrenzen? Das Internet hatte viele Stimmen, aber eine Antwort: Niemand. Wer steckt die Slalomstangen der Moral? Für welche Fahrer? Entweder Kultur oder schnelles Internet - beides 'geht einfach nicht klar'. Wer braucht Vergangenheit? Wenn ich historisch schreibe, nehme ich eine Userin, schicke sie auf wikipedianische Zeitreise, verliebe sie in einen User, mische Deko - Wandtapetenstädte und Durstwüsten, Dunkelgrafen und Finsterfrauen. Ein Schicksalsmahl, ein leichtes, soll es dem Leser sein.

Es ist eine Welt ohne Wissen. Ich weiß nichts, das Netz weiß alles. Ich weiß, weil ich klicke. Schreiber, bleib mir fern mit allem, was ich mir merken muss. Die Namen, die Orte, die Fremdsachen - übertreib es nicht. Wer will sich das alles merken - denkt an die Demenz der Alten, denkt an die Demenz der Jungen.

Es ist eine Welt ohne Moral. Das Internet spricht mit tausend Stimmen. Moral spricht immer mit einer Stimme. Internet ist Drehbühne, Rollbühne. Moral ist Struktur, aus der Vergangenheit gelebte Gegenwart, gemenschte Langsamkeit. Für das Internet hat die Menschenzeit keine Ordnung. Fantasy und Science Fiction - nur das Bühnenbild ist grundverschieden. Als Self-Publisher habe ich alle Freiheit. Ich darf nur nicht der Tempodrosselung das Wort schreiben.

Was für eine Welt ist das!? Aber sie ist mein Lektor. Ich habe niemanden sonst: Keinen Mann mit wenig Haar und viel Brille, keine Frau mit gutem Herz und zuviel Arbeit. Mein Lektor ist das Internet - Millionen von Usern, die in Glasfaserkabeln unterwegs sind.