Freitag, 10. Juni 2011

I.25 Hase und Igel

Bei einer zufälligen Begegnung macht sich der Hase über die schiefen Beine des Igels lustig, woraufhin ihn dieser zu einem Wettrennen herausfordert, um den Einsatz eines Goldstückes und einer Flasche Branntwein. Bei der späteren Durchführung des Rennens auf einem Acker läuft der Igel nur beim Start ein paar Schritte, hat aber am Ende der Ackerfurche seine ihm zum Verwechseln ähnlich sehende Frau platziert. Als der siegesgewisse Hase heranstürmt, erhebt sich die Frau des Igels und ruft ihm zu: „Ick bün al dor!“ („Ich bin schon da!“). Dem Hasen ist die Niederlage unbegreiflich, er verlangt Revanche und führt insgesamt 73 Läufe mit stets demselben Ergebnis durch. Beim 74. Rennen bricht er erschöpft zusammen und stirbt.

In diesen Tagen wurden die (vermeintlichen) Betreiber von kino.to verhaftet. Angriffe auf Polizeistationen, Laserattacken am Berliner Flughafen, brennende Rathäuser, Sitzblockaden auf der A2 - mitnichten. 20 neue kino.to aus dem Stand. Der Inhalt wird zur Hülle. Die Hülle zum Inhalt. Das Internet häutet sich ständig. Der Name ist Schall und Rauch. 

Nachdem ich vorangegangenen Kapitel über Doppelexistenzen geschrieben habe, geht es hier um das spurlose Verschwinden von Existenzen. Da die Identität an sich schon verschleiert ist - wie wenig bleibt übrig nach ihrem Verschwinden. Ein beliebtes Spielchen in den Boards ist die passive Deaktivierung meines Nicks. Bei Nichtgefallen, bei Schwierigkeiten stelle ich die Benutzung ein. Für die Deaktivierung gibt es keine andere Möglichkeit: Löschung ist nicht vorgesehen. Also verlasse ihn. Ich ziehe aus. Ich ziehe um ohne Nachsendung.

Ist es nicht ein schlechter Schreibstil, wenn ich eine Figur deaktiviere? Gut, ich hätte es mir vorher überlegen sollen, was mit der Figur passiert. Ich denke, es spricht nicht für mein Buch, wenn ich Lücken hinterlassen muss. Eine Nebenfigur, die zu dominant wird, fahre ich in Urlaub. Aus zwei Frauen mache ich eine unschwangere und eine schwangere Frau. Einen Verdächtiger, der mir zuviel wird, lasse ich anschießen. So einfach ist das. Passiert in jedem guten Roman und Film.

Es gibt zwei Herangehensweise. Ich kann für mich schreiben. Dann habe einen hohen Anspruch an meine Werk. Mein Buch muss vor mir selbst bestehen. Die Frage ist: Stört mich die Lücke? Wenn sie mich wirklich stört, fange ich am besten ganz neu an. Schlechter wird mein Schreiben dadurch nicht. Diese Herangehensweise ist ehrgeizig, denn ich kenne mein Buch wirklich gut. Ich kann aber andererseits mein Schreiben auf meine Leser abstimmen, seine Aufmerksamkeit und seinen Überblick. Die Frage ist dann: Stört die Lücke meinen Leser? Fällt es meinem Leser überhaupt auf?

Ebooks werden von einem anderen Publikum gelesen als Papierbücher. Das sage ich mal so. Die User sind Sprünge gewöhnt. Ein Spurwechel stört sie nicht weiter. Sie sind gewöhnt, Dinge nicht weiterzuverfolgen, Interesse abzustreifen. Das ist ein Wesensmerkmal des Surfens. Ihnen, diesen Buchsurfern, ist die Spannung des Romans wichtiger als seine Schlüssigkeit. Die Handlung soll abwechslungsreich sein, nicht folgerichtig.

Natürlich ist es besser, eine Handlung vorzulegen, die so spannend wie schlüssig ist. Dennoch ist Spannung eine Muss, während die Schlüssigkeit nebenrangig ist. Um auf das Märchen zurückzukommen: Der Igel hat darauf spekuliert, dass der Hase zu atemlos ist, um genau hinzusehen. Machen wir es ihm gleich. Hetzen wir den Leser über den Acker, wenn wir zurückliegen!