Sonntag, 25. September 2011

Ghaddafi: Das Gespenst in der Tabuzone


Das Internet hat uns zu Poseuren gemacht. Allgegenwärtig, allumfassend hat es uns zu Bildabzügen von uns selbst gemacht. Wir sind die kleinen Kinder, denen der Fotograph Räppelchen zuwirft. Und wir machen unsere Happy Faces. Fürs große Facebook Internet. Fürs Happy Meal.
Alles Pose oder was!? Wo hört die Pose auf? Wo beginnt unser Selbst?
Ein Post über Berlusconi, grenzwertig. Ein Post über Ghaddafi, unmöglich! Der Mann ist Gespenst und globale Tabuzone in einem. Ich überschreite eine gesicherte Grenze. Bloggen aber bedeutet Tabus brechen. Niemand sonst betritt die Minenfelder der von der Gemeinschaft ausgestoßenen Gedanken.

Ich frage ganz einfach: Warum gibt es plötzlich diese Grenze? Ist der Mann ein Massenmörder durch Presseerklärung geworden? Oder ist der Mann ein Massenmörder durch Massenmord geworden. Vor 6 Monaten jedenfalls war der Mann geachteter Politiker, weil er lybisches Öl verkaufte. Jetzt ist er geächtet, weil ein anderer Jemand lybisches Öl verkauft. So schnell kann es gehen. Sag das etwas über ihn aus? Oder über die Luftüberlegenheit der Nato?

Der Mann war ein Extrovertant, ein Spektakel. Ein Faceman, als es Facebook noch nicht gab. Jedes seiner vielen Gesichter war einen Bericht wert. Auf Auslandsreisen nahm er seine Beduinenzelte mit und ließ westliche Politiker seinen Kamelen die sandigen Hufe küssen. Das zeigt Sinn fürs Schauspiel - extravagantes Posenspiel und psychotische Umkehr der Introvertiertheit zugleich. Ein Magier der Selbstdarstellung zwar, aber ein Politiker auch. Ein öffentlicher Mensch wie sie alle.

Doch festgestellt, dass alles Pose ist, stellt sich die Frage, was hinter der Pose ist. Was bleibt übrig, nachdem das öffentliche Bild zerstört wurde.

Was ich sagen will -

- nehmt irgendeinen Mann der öffentlichen deutschen Wahrnehmung: Was bleibt von diesem Mann, wenn das Bild von diesem Mann zerstört wurde? Nichts als ein Pensionsantrag! Dazu eine vor Jahren verfasste Pressenotiz: "Ihr habt mich nicht verdient." Alles Fassade, hinter der Anwartschaften gesammelt wurden.

Gadaffi dagegen zieht mit dreißig Jahre alten Waffen in den Krieg gegen die drei modernsten Armeen der Welt. Ein kommodes Asyl hätte der Westen ihm eingerichtet mit all seinem Geld. Nur die Kamelen hätten den Unmut der westlichen Politiker zu spüren bekommen. Gadaffi aber zieht in einen Krieg, der ihn vernichten wird. Das war nicht klug.

Als er im Bomenhagel der NATO mitten in Tripolis dem Auto mit einem Regenschirm entstieg, wollte er etwas anderes als Klugheit unter Beweis stellen. Sein öffentliches Bild wird nächtelang bombardiert und hervor tritt jemand, der kein Feigling ist. Verrückt ist das. Völlig unerwartet und archaisch.

Wir stellen uns vor: Einer von unseren Selbstversorgern zieht in einem Krieg der Worte die falsche Karte? Das Pathos seines Heldentums müsste uns als Aufzeichnung genügen. Der Redner und Spieler hätte sich nachhaltig in Sicherheit gebracht. Wir hören das Knattern der Hubschrauberrotoren und wissen: Die Lage ist ernst ... für uns.

Es hat andere wie Ghaddafi gegeben. Churchill und Stalin - so entfernt sie einander politisch waren - in einem waren sie gleich: Hinter dem Mann der öffentlichen Wahrnehmung stand ein Mann, kein Fluchtwagen.