Sonntag, 19. Juni 2011

II.14 Erzähler oder Dramaturg

Charon brachte die Toten über den Fluss Acheron zum Eingang des Hades. Auf die Fähre dieses unbestechlichen Fährmannes durfte nur, wer die Begräbnisriten empfangen hatte und dessen Überfahrt mit einer Geldmünze, dem sogenannten „Charonspfennig“, bezahlt worden war. Jene Toten, die kein Begräbnis erhalten hatten und denen Charon deshalb den Zugang verwehrte, mussten hundert Jahre warten und an seinem Ufer als Schatten umherirren.

Wo sich zwischen der Wirklichkeit und dem Buch die innere, die subjektive Zeit wie ein Grenzfluss ausdehnt, steht der Erzähler wie ein Fährmann, der die Seligen von den Verdammten unterscheidet. Der nur denen die Überfahrt gestattet, die sich ihm ordentlich ausweisen können.

Von den Schriftstellern der älteren Generation wird die Wirklichkeit als bedrohlich angesehen. Sie sehen ihre Aufgabe darin, dem Leser einen Fluchtraum zu bieten. Ein direkter Kontakt mit der Wirklichkeit ist vom Autor nicht vorgesehen und vom Leser nicht gewünscht. Beide sehen sich als Verlierer, nicht als Gewinner einer unbegreiflichen Zukunft.

Also zieht der Leser eine vom Autor fürsorglich hergerichtete Welt vor. Die Personen darin haben kein eigenes Leben, keinen Freiraum. Sie sind zwar selig gesprochen, aber leblos. Sie werden erzählt. Die Handlung hat keinen Weltgehalt. Sie enthält Weltsicht. Die ältere Literatur ist in großen Teilen direkt und offen zugegeben Wirklichkeitsverweigerung. Der Autor ist Fluchthelfer.

Der Dramaturg des Theaters ist sein Gegenpol. Die Personen seines Stückes sind kraft ihrer selbst auf der Bühne. Sie führen ein Eigenleben. Kein Autor greift in die Handlung ein. Folge davon: Jeder Regisseur kann das Bühnenstück auf seine Weise interpretieren. Dem Zuschauer wiederum ist überlassen, ob er dem Regisseur folgt oder seine Interpretation ablehnt. Aus dem Stück selbst heraus ergibt sich keine einzig gültige Auslegung. Es unterwirft sich keinem Urteil.

Auch ein Autor kann sich als Dramaturg begreifen, indem er seinen Personen die Freiheit des Handelns lässt, sie vielschichtig anlegt oder nur skizziert. Die Tuchbahnen der Sichtweisung benutzt er als Untergrund für seine Personen, spannt sie nicht als Zeltdach über ihnen auf. Er tritt zu keinem Zeitpunkt zwischen das Buch und seinen Leser. Dieser hat ein Urteil zu fällen, eine Weltsicht zu entwickeln, nicht der Autor.

Wir Indie-Autoren lehnen die Wirklichkeit nicht ab, sondern profitieren von ihr. Mag sein, dass es in einigen Jahren kein Verlagswesen, keinen Buchhandel, keine Schrifstellerprominenz mehr gibt - das ist ureigentlich nicht unser Problem. Die Zukunft steht frohfrech auf unserer Seite. Als Dramaturg treten wir auf, warum als etwas anderes!?