Samstag, 18. Juni 2011

II.13 Die äußere Zeit, die innere Zeit

Unsere Leser, als heftige Internetuser, erfahren die Zeit als eine von außen auf sie einwirkende. Da sie gut verdrahtet sind, passt der einzelne seinen Zeitrahmen den Zeitvorgaben der Community an. Je größer seine Community ist, je weniger Zeit bleibt ihm. Nicht wenige sind bereit, eigene Zeit völlig aufzugeben. Wofür brauche ich eigene, mit Nichts ausgefüllte Zeit? Was würden meine Freunde und Freundinnen zu solchen Anwandlungen sagen?

Klingt banal. Ist im Alltag auch kein Problem. Beim Schreiben, aber machen sich innere und äußere Zeit den Platz streitig. Sie bilden Gegenpole des Erzählens.

Die äußere, die historische Zeit ist vorgegeben durch die Handlung. Sie ist ein objektiv Maß, das nicht verkürzt oder in die Länge gezogen werden kann. Sie steht über den einzelnen Personen, ist von ihnen nicht beeinflussbar. Sie sind ihr untergeordnet. Die Personen bewegen sich in diesem unsichtbaren Netz. Die einzelne Person ist nichts als Teil der Community, die wiederum ohne Rückstand mit der Handlung verschmilzt. Hat der Autor Community und Handlung entworfen, schreibt sich das Buch wie von selbst.

Die innere, die gelebte Zeit dagegen lässt sich subjektiv dehnen und verdichten. Sie verlässt die Handlung an einem beliebigen Punkt, geht in einer Beschreibung auf, flüchtet auf Trampelpfaden ins Kartenlose. Sie bildet hinter Abschottung eine Ruhezone wie eine Insel. Die Haupthandlung fließt daran vorbei, gleitet sanft darüber wie ein Nebel oder ist gänzlich unsichtbar wie ein warmer Luftstrom. Die Innenzeit umkreist Landschaft und Vergangenheit, taucht im Inneren nach Einsamkeit, Ängsten, Zweifeln, nach Glück, Ruhe, Sehnsucht. Neue Tempobahnen können abzweigen und alte sich wieder vereinen. Es liegt alles in der Hand des Erzählers.

Ganz eindeutig hat die Literatur im 20. Jahrhundert lange ein Gegenbild zur Moderne entworfen, einen Rückzugsraum geschaffen. Jeder Leser war ein Aussteiger aus der Moderne, jedes Buch ein Schlüssel zu einer anderen Welt. Lange Zeit wurde die Gegenwart als feindlich angesehen, wurde eine Anderswelt herbeigesehnt. Die innere Zeit des Erzählens dominierte eindeutig.

Gerade weil sich die ältere Generation - zu Lasten der Jüngeren - versorgt und abgesichert hat, suchen die Jüngeren - was bleibt ihnen übrig! - in der Gegenwart ihre Chance. Das Internet ist ihr Rückzugsraum. Hier hat die ältere Generation keinen Zugang gefunden bzw. jede Orientierung verloren. Mag jeder für sich wissen, wie er mit den beiden Erzählzeiten umgeht. Dem Internet jedenfalls ist die innere Zeit fremd. Seinen Usern sicherlich auch. Es spricht viel dafür, dass wir vor einer Zeitenwende (im wahrsten Sinne) stehen. Nichts anderes steht zur Debatte.