Dienstag, 13. September 2011

Ein literarischer Blog frei nach Tristram Shandy

"Ist das jetzt ein Plädoyer gegen Smashwords?" fragt Annemarie Nikolaus in ihrem Kommentar zu meinem Beitrag 'Die artgerechte Haltung von Indie-Autoren'.

Weder für noch gegen Smashwords, liebe Annemarie, ist mein Artikel gerichtet. Ich erörtere nichts, ich begegne bloß. Etwas ohne Inhalt geschieht. Assoziationen verzweigen sich aus sich selbst. Stimmen antworten einander, weil es ihn ihrer Natur liegt. Gedanken mögen sich selbst genug sein. Empfindungen aber haben keinen Inhalt als die Bewegung. Ein Stilblogger sagt: Ich spreche, also bin ich. Mehrstimmig, so möglich. Ein Sachblogger hält dagegen: Ich weiß, also bin ich. Mit einer Stimme, versteht sich.

Ich suche nicht die Wahrheit, ich suche die Aufmerksamkeit. Sie ist die Wahrheit der Seele. Ich liebe Irratio, den Herrscher im Reich der Gerüchte, der Halbwahrheiten und Widersprüche. Irratio ist der Schutzpatron der Blogger. Er ist ein Gönner und Lebemann. Nie traf ich ihn auf demselben Weg. Nie sprach er über sein Ziel. Ratio aber ist ein Pedant, ein Wissensknecht. Lieber habe ich keinen Besitz, als einzuziehen in eines seiner geduckten Häuser.

"Am 5. November des Jahres 1718, d.h. also gerade neun Kalendermonate nach dem obenbestimmten Zeitpunkte*, ganz so wie es ein vernünftiger Ehemann nur erwarten kann, wurde ich Tristram Shandy als Bürger dieser unserer jammervollen und elenden Welt geboren."

Lehnsherr aller Stilblogger ist der seltsamste Roman der Literaturgeschichte Leben und Ansichten von Tristram Shandy (1759). Der Roman besitzt quasi keine Handlung. Erst nach 42 Kapiteln wird der 'Held' geboren. Bis dahin (und auch danach) umfließt die Erzählung einen gewöhnlichen englischen Landhaushalt und zwei Brüder, deren Schrullen, Einsichten, Assoziationen und Wortspiele.

Freiweg verwickelt sich der Erzählfaden, als sei nichts anderes seine Aufgabe. Die Nebensache wird zur Hauptsache. Selten finden die Sätze ihr logisches Ende. Es ist ein Werkschau des Sprachzaubers und der Fabulierkunst. Unbegreiflich dem Leser, welchen Unsinn der menschliche Geist hervorbringt, und mit welchem Vergnügen er diesen aufzunehmen bereit ist.

Ehe auch ich mich verliere, liebe Annemarie. Darum geht es in diesem Blog. Ich darf nicht für andere sprechen, tue es aber doch. Es ist unmöglich, einen Blog nur mit Informationen zu füllen. Es wäre darin zu eng. Und es hätte keinen Stil. Zwei Todesurteile. Schon eines wäre tödlich. Also fülle ich ihn mit Halbwahrheiten und Andeutungen, mit Vorhersagen und Verunklarungen. Einem literarischen Blog sind solche Zutaten gestattet, denke ich.
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* "Mein Vater war unstreitig einer der regelmäßigsten Menschen, die es auf der Welt gab, sowohl was das Geschäft als was das Vergnügen anbetraf. Als eine kleine Probe dieser außerordentlichen Regelmäßigkeit, zu deren Sklaven er sich geradezu gemacht hatte, mag angeführt werden, daß er lange Jahre seines Lebens am Abend des ersten Sonntags im Monat die große Hausuhr auf der Hintertreppe eigenhändig aufzog und dann zugleich gewisse kleine Familienangelegenheiten in Ordnung zu bringen pflegte, um sich, wie er oftmals zu meinem Onkel Toby sagte, alles miteinander auf einmal vom Halse zu schaffen und die übrige Zeit des Monats nicht weiter davon geplagt und belästigt zu werden."