Dienstag, 14. Juni 2011

II.4 Vom Abschreiben zum Schreiben

An welchem Ende steht mein eigenständiges Werk: am Anfang oder am Ende? Diese Frage ist leicht zu beantworten, wenn sie so einfach gestellt wird. Fangen wir also uneigenständig an. Das scheint vernünftig, weil es uns hilft, einen Anfang zu finden, der sich sehen lassen kann.

Ich habe eine ungefähre Vorstellung, was ich schreiben will. Gehe ich also an den Regalen entlang und schaue, was im Angebot ist. Ich beschließe, dass mein erstes Werk zwischen diese Bücher passen muss. Kein neues Regal will ich - nur einen Platz zwischen den vorhandenen Büchern.

Ich entscheide mich also für ein bestimmtes Buch. Es soll mir gefallen. Sein Autor soll bei anderen Büchern Anleihen genommen hat. Ein typischer Genre-Bestseller also. Dann male ich mir einen Plan von dem Buch auf, indem ich die Fragen: Wann? Wo? Wer? - Was? Warum? Wie? beantworte.

[Einschub] Selbst wenn ich nichts als die Namen ändere, wird mein Buch eigenständig sein. Wenn ich flüssig aus meiner Phantasie heraus schreibe, wenn ich mit Herzen dabei bin, dann wird das vorliegende Buch mein eigen geworden sein. Meine Erfahrungen, meine Träume, meine Ängste, meine Lebenswirklichkeit werden das vorhandene Werk völlig verändern. Keine Sorge. Am Ende werdet ihr als eigenständiger Autor dastehen. Niemand wird euch sagen können, dass ihr mehr als branchenüblich abgeschrieben habt. [Einschub]

Fangt einfach an. Schnappt euch ein Buch, lest die erste Seite des ersten Kapitels. Verändert darin nur die Namen und schreibt los. Ihr könnt jederzeit auf den fremden Text schauen. Legt ihn daneben, wenn ihr wollt. Kein Problem. Klappt's? Nun nehmt ihr die nächste Seite. Lest sie durch und legt sie ganz weg. Ihr seht, was ich meine? Wir beginnen das Schreiben mit dem Abschreiben. Dann lösen wir uns langsam Schritt für Schritt davon.

Nun verändern wir auch die Orte. Diesmal schreiben wir ein ganzes Kapitel. Aus dem amerikanischen Zaubercollege wird unser Berufskolleg oder was auch immer. Natürlich müssen wir die Sprache der Örtlichkeit anpassen. Keine Scheu - der Übersetzer hat vor euch die gesprochene Sprache geändert. Im Amerikanischen klingt sie völlig anders. Schreibt freiweg, wie die Leute sprechen, die ihr kennt. 

Vielleicht ist euch aufgefallen, dass die Personen durch die neue Sprache ihren Charakter verändert haben. Übertreibt ruhig ein wenig. Keine Angst, ihr schreibt nur für euch selbst. Blamieren könnt ihr euch nicht. Die Personen blamieren sich, werdet ihr feststellen. Im Miteinander und Gegenüber der Personen klingt es nicht richtig. Eure Dialogsprache wird von allein glatt und flüssig, sonst seht ihre Brüche.

Nun seid ihr schon mittendrin, die dritte Frage nach dem Wer? anzugehen. Auch hier wollen wir Veränderungen vornehmen. Schreibt für jede Person die äußeren Eigenarten auf. Mischt einfach Eigenarten von Leute ein, die ihr kennt. Ihr seht, wenn ihr zuviel reinmischt, zerfällt die Person. Ihrem inneren Zusammenhalt dürft ihr nicht zu nahe kommen.

Kommen wir von den Eigenarten zu den inneren, den charakterlichen Eigenschaften. Da sehen wir, dass die Frage: Wer? ohne die Frage: Was? nicht vernünftig beantwortet werden kann. Die ersten drei Fragen: Wann?, Wo?, Wer? stecken den Erzählraum ab. Die Fragen: Was? Warum? Wie? zeichnen die Wege im Erzählraum nach. Es ist leicht, die Fähnchen der ersten beiden Fragen umzustecken, schwieriger ist es, den Verlauf eines Weges zu ändern, ohne die anderen Wege ändern zu müssen.

Viele Reihen-Belletristiker ändern nichts an den Wegen. Sie führen neue Figuren ein, tauchen die Orte in ein anderes Licht, fügen dem Wer? äußere Eigenarten hinzu, nehmen aber an seinen inneren Eigenschaften und dem Was? Warum? Wie? keine Veränderungen vor. Lassen wir es dabei. Sie werden die Gründe dafür kennen.

Schaut euch die Kapitel in eurem Buch an. Sie sind unterschiedlich. Beschreibend, handelnd, streitend, zärtlich, ruhend. Ihr erkennt schnell, das jeder Autor seine Stärken und Schwächen hat. Versucht selbst herauszufinden, was euch liegt. Vielleicht fragt ihr wen anders. Mädchen sollten Mädchen fragen, Jungens andere Jungens. Auch in der Belletristik schreiben Frauen für Frauen, Männer für Männer. Es gibt selbstverständlich bedeutende Ausnahmen. Versucht nicht bei eurem ersten Leser herauszufinden, ob ihr zu diesen Ausnahmen gehört.

Habt keine Scheu. Schreiben und Lesen unterscheiden sich nicht groß. Beim Schreiben erzählt ihr euch selbst, beim Lesen erzählt euch ein anderer. Sonst gibt es keinen Unterschied. Schreiben ist mühevoller. Das liegt daran, dass ihr das Erzählte festhalten müsst, während beim Lesen diese Arbeit bereits ein anderer gemacht hat. Stellt euch vor, ihr müsstest nichts eintippen und korrigieren - wie leicht wäre das Schreiben dann?

Wichtig ist, dass ihr euch nicht verhakt oder verbeisst. Wichtig ist, dass ihr den Fluss, den Erzählspaß nicht verliert. Das ist der Grund, warum ihr euch vom Abschreiben zum Schreiben langsam vortasten solltet.