Sonntag, 12. Juni 2011

II.1 Das Tarnnetz der Unterstruktur

Gut und Böse sind für einen Romanschriftsteller keine Frage der Moral. Für ihn sind Gut und Böse eins, nämlich eine Sackgasse. Es gibt nicht den Bösen oder die Gute. Nicht weil es sie nicht gibt, sondern weil es sie nicht geben darf. Alles im Roman bewegt sich durch die Spannung zwischen Gegensätze. Wegen der Strecke, die er zurückzulegen hat, ist für einen Roman Bewegung das oberste Ziel.

Deshalb ist die Struktur des Romans überzogen mit einem feinen Gespinst von Unterstrukturen. Jede Figur - sei sie böse oder gut - ist in sich gespalten, kämpft mit sich. Sie ist selbst Verbindungsglied von Gut und Böse. So entsteht ein immer feineres Netz, dass zwar sehr einfach aufgebaut ist, sich der Durchsicht, der Erkennbarkeit von außen entzieht. Eine Art Tarnnetz.

Wenn euch eine Figur herzgründlich unsympathisch und zuwider ist, dann seid ihr in einer Sackgasse gelandet. Rhett Butler ist Abenteuerer und Kriegsprofiteur, aber er liebt Scarlett. Er lebt einen Widerspruch. Ein Serientäter ist zwar böse, aber er lässt uns in einer Innenschau mitansehen, wie er mit sich ringt. Ein Kommissar ist zwar Aufklärer, aber durch sein Privatleben tappt er ohne Licht.

Auch äußerlich kann sich dieser Widerspruch auftun. Der Held will nicht auf die Reise gehen, aber äußere Umstände zwingen ihn nach und nach zu einem Umdenken. Auf der Reise selbst muss er Hindernisse überwinden, Gefahren bestehen. Je eindimensionaler der Held ausgelegt ist - man denke an den darin unübertroffenen Tom Clancy - desto größer muss die Gefahr sein. Der Held und die äußere Gefahr bilden die beiden Pole.

Es kann auch ein Zeitfaktor dazukommen. In dem Fall bildet sich ein Spannung zwischen der benötigten und der verfügbaren Zeit. Thriller sind oft so angelegt. Ein Serienmörder ist abgrundtief böse, ein Islamist weltbedrohend, aber es bleibt wenig Zeit sie zu stoppen. Denkt nur an den Agenten 007.

Der Widerspruch kann auch zwischen der Figur und ihren Eigenschaften liegen. Die Prinzessin ist zwar ein Lichtwesen, aber arm. Eine Heirat widerspricht jeder wirtschaftlichen Vernunft. Was wäre, wenn diese Prinzessin reich wäre? Blick, Kuss, Heirat, Ende. So aber funktioniert kein Roman. 

Auf allen Ebenen finden sich zweipolige Strukturen, die sich immer feiner verästeln. Erst wenn ihr zu Ende kommen wollt, verknotet ihr diese Ende. Bis dahin aber müsst ihr die zweipolige Spannung aufrechterhalten und ausbauen. Je feiner euch die Verästelung gelingt, desto schöner ist euer Werk anzusehen. Ein Romanschriftsteller ist nichts anders als ein Goldschmied.

Seht euch ein Märchen an. Alle Figuren sind einpolig. Das funktioniert, solange das Märchen kurz ist. Denkt euch zur Übung für jede Figur eine Widersprüchlichkeit aus. Ihr seht, hinter dem Märchen entsteht sofort neuer Erzählraum.