Mittwoch, 19. Oktober 2011

Rezension: Andrej Kurkow - Der wahrhaftige Volkskontrolleur

Wir haben es in diesem Roman eigentlich mit vier Geschichten zu tun. Ein Schuldirektor verliebt sich romatisch-unbürokratisch in die Stiefmutter eines Schülers. Ein Varietee-Künstler reist mit einem Papagei, der patriotische Gedichte aufsagt, im Land umher. Ein Engel, der aus den Himmelsscharen desertiert ist, schließt sich einer Gruppe von Armeedeserteuren an. Und schließlich die Geschichte von Pawel, einem einfachen Bauern, der zum Volkskontrolleur ernannt und in den äußersten polarnächtlichen Norden des Landes geschickt wird. Hintergrund des Geschehens ist die frühe Sowjetzeit, als die Menschen noch gutgläubig und zukunftsfroh waren.

Die Geschichten sind ineinander geblendet. Das geht auch gut, da sie sich deutlich voneinander abgrenzen. Jede der Geschichten hätte auch für sich stehen. Sie alle hätten ebenso hintereinander erzählt werden können. Vergeblich wartet der Leser wartet darauf, dass sich die Erzählstränge irgendwann treffen. Verbindendes Element ist der Patriotismus der Menschen. Kurkow erzählt im Stile eines Volksmärchens. Seine Leser wissen in der Rückschau wesentlich mehr als die handelnden Personen, denen die herannahenden Schrecken der Zwangskollektivierung verborgen bleiben. Sie fühlen sich und benehmen sich wie in einem Märchen, dass unbedingt ein gutes Ende finden wird.

Das ist eigentlich Kurkows Trick: Er belebt ein Propagandagemälde, lässt die ideal dargestellten Menschen herabsteigen und schickt sie auf die Reise durch die sowjetische Wirklichkeit. Daraus ergibt sich Situationskomik der absurden Art. Voller Ernst und erhobenen Hauptes träumend stoßen sie wie in einem Slapstickfilm mit den allergewöhnlichsten Dingen des Lebens zusammen.

Mir persönlich hat sich das Buch nicht so recht erschlossen. Der Grundgedanke, dass sich die Realität alle Mühe gibt, die Träumenden auf die Probe zu stellen, hat sich bald erschöpft. Da der Roman aus Sicht dieser idealen Sowjetmenschen geschrieben ist, geht der Autor nie über deren Verstehen hinaus. Das erschwert dem mit der Sowjetrealität unvertrauten Leser das Verstehen, da vieles nur angedeutet bleibt. So erging es auch mir. Manches ist komisch oder grotesk, anderes aber erschloss sich mir nicht.

Das Buch beim Haymon Verlag

Dienstag, 18. Oktober 2011

Die Buchbestseller 2011 und kein Prickeln

Täusche ich mich oder ist das Angebot an Blockbustern im Buchbereich sehr schwach in diesem Jahr? Wir schreiben Ende Oktober und weit und breit nichts mit Dan Brown oder Harry Potter Vergleichbares. Die kleinen Verlage sind weiter rege und lassen aufmerken. Aber die großen Häuser haben in diesem Jahr nichts im Programm, für das die Kunden die Buchläden stürmen werden.

Zudem sind die Bücher alle teurer geworden. Die € 19,95 sind bereits die Ausnahme. Viele Bücher haben die € 20,00-Grenze deutlich überschritten. Es ist im Einzelhandel immer sehr gefährlich, solch eine optischen Grenze zu reissen. Da die wirtschaftlichen Ausssichten besonders schlecht in diesem Jahr sind, wird sich der Kunde mit dem Kauf schwerer tun als sonst.

Die Neuerscheinungen sind alle keine Bücher, die sich dem Kunden von selbst in die Hände legen. Umberto Eco war emsig, aber sein neues Buch ist endlos weit von "Der Name der Rose" entfernt. Dann haben wir die üblichen Fließautorinnen wie Kerstin Gier, Dora Heldt und Nora Roberts, die saisonal buchbar sind. Walter Moers ragt heraus, hat aber auch nur ein Zwischenbuch geschrieben.

Neu ist in diesem Jahr das Buch für die Ü80-Konsumenten. Da tut sich wirklich etwas. Zahlreiche Bücher nehmen sich des Themas Oma-hilft-Enkelin, Opa-dreht-auf und Alzheimer-für-Dummies an. Die Verlage erschließen sich hier mit Entschlossenheit eine neue Beschenktenschicht. Jedenfalls ist ein Buch unbedingt gesünder als Schokolade und Schnaps.

Also müssen in diesem Jahr die Buchpreisträger das Geschäft bringen. Ernst Ruge belegt im Augenblick die Bestsellertische. Das zeigt eigentlich schon, wie flau und mau das Angebot in diesem Jahr ist.  Das Cover ist sehr gelungen, der Buchinhalt ist bemüht, um es milde zu sagen.

Junge Osteuropäer vermisse ich in diesem Jahr weitestgehend. Scheinbar wird an den Übersetzern gespart. Das ist jammerschade, denn fast alles, was von dort kam, ragte aus unserem altersmüden Einerlei heraus.

Für uns Leser heißt das, die Bestsellerlisten- und -tische umkurven und selbst auf die Suche gehen. Viel Interessantes kommt aus Österreich. Nur mal als Tipp.

Montag, 17. Oktober 2011

Frankfurt 2011 - eine Retromesse

Der Platz vor der EZB besetzt von Lautsprecherboxen, von Zelten, Fahnen, Spruchbändern, Gulschkanonen und Kamerawagen. Die Demonstrationstechnik ist im Frankfurter Bankenviertel aufgefahren. Routiniert bezieht sie das Lager für die Bilder in der Tagesschau. Das riesige Euro-Symbol, die aufgehügelte Rasenfläche, sogar das Wetter wirkt wie herbeigeschafft.

Doch die Demonstranten wirken ratlos. Sie belagern ein Symbol und wissen nicht, was sie bewirken wollen. Wieder mal wird der Sozialismus ausgerufen. Die Zinsen sollen abgeschafft, die Banker verjagt werden. So weit, so gut. Aber was genau ist das Wesen der Finanzkrise? Welche Spieler stehen auf welcher Seite? Was ist die Antwort? Wie ernst ist die Situation eigentlich? Die Veranstalter sind ratlos und drehen die Musik auf.

Nein, ich bin nicht im falschen Beitrag gelandet. Was hat das alles mit den Buchpiraten und der Buchmesse zu tun? Sehr viel, finde ich. Die Buchmesse vermittelt den Eindruck, bereits ihre eigene Retroveranstaltung zu sein. In den Gesichtern ist die Krise des Buchhandels sichtbar als Dunkelahnung. Dennoch habe ich in einem U-Bahnwagen in London mehr eReader gesehen als auf der gesamten Buchmesse zusammen. Das Ding, um das es geht, hatte Messeverbot.

Im Audi-Pavillon vor der Buchmesse ist die Technik bereits Fakt, werden die Grenzen des Erzählens eingerissen zum Computerspiel und zum Geruchbuch. In der Buchbranche selbst - habe ich mir versichern lassen - hat noch kein Buchvertreter an der Grenze von 40 Jahren jemals ein Buch digital gelesen. In diese dunkle Ecke des Ladengeschehens werden die Lehrlinge geschickt.

Die Entscheider sind alle dagegen. Ihre Welt ist bedroht von etwas, dass sie nicht verstehen. Sie haben das Gefühl in einen Abgrund zu blicken und wollen nun keinen weiteren Schritt machen. Nachdem die meisten Einzelbuchhändler im Abgrund verschwunden sind, stehen nun die Großketten davor und blicken hinunter. Deren zahlreiche Angestellte blicken auf ihre Manager, die von hinten drängen.

Genau wie die Finanzkrise ist auch die Digitaliserung noch bei niemandem unmittelbar spürbar. Die Verkäufe an eBooks sind nahe Null. Doch was bedeutet diese Null? Bedeutet es, dass niemand digital liest, oder beweist es, dass niemand zu den Buchhändlern geht, um digital zu lesen? Wir stehen vor einer Revolution vergleichbar nur der Erfindung des Buchdrucks, höre ich überall auf der Buchmesse sagen.

Überall zur Gewissheit erhobene Ahnungen. Die Gänge entlang sich versichernde Ausweglosigkeit. Wir sind an dem Punkt, an dem auch der Großbuchhändler begreift, dass sein Geschäft bald zur Weitervermietung steht. Es sind die Haifische der Branche, die jetzt den eigenen Trauermarsch anstimmen. Es ist ein Vorgriff auf ihr Sterben, aber ihre Trauer ist echt.

Donnerstag, 13. Oktober 2011

Rezension: Eugen Ruge - In Zeiten des abnehmenden Lichts


Trister Abgesang auf eine ostdeutschen Funktionärsfamilie

Der Autor zeichnet das Leben von Wilhelm und seiner Frau Charlotte nach, beide Parteiaktivisten der ersten Stunde, die aus ihrem Exil in Mexiko in die DDR übersiedeln, um sich mit einer privilegierten Stellung am Aufbau des Sozialismus zu beteiligen. Obwohl sie keinerlei Qualifikation vorwiesen können außer Anpassungsfähigkeit an die jeweilig herrschende Parteilinie, steigen sie im Mittelbau des Parteiapparats auf. Gut versorgt und großzügig bedacht mit staatlich verordnetem Ansehen blickt Wilhelm 1989 im letzten Abendlicht der DDR auf sein Leben zurück.

Der Roman ist nicht schlecht geschrieben. Aus jeweilig anderer Perspektive passieren die Jahre nicht Revue, sondern werden geschickt übereinander geblendet, sodass sich ein vielschichtiges Bild ergibt. Alle Familienmitglieder kommen im Innenausblick zu Wort. In der Gesamtschau, über die Jahre und aus den verschiedenen Sichtweisen heraus ergibt sich das Bild einer Familie, die sich mit dem Auseinanderfallen ihres Staates untereinander fremd wird.

Dennoch ist dieses Buch schlicht grauöde und langweilig. Es kann auch nicht anders sein, weil die Familie, die Euge Ruge zum Gegenstand gewählt hat, Mittelbau einer Funktionärsschicht ist, die selbst in den Toplagen borniert und ferngesteuert war. Alle Mitglieder der Familie hinken der Entwicklung weit hinterher. Erst 1989 wird leise und mutlos Kritik geübt. Eugen Runge ist ein scharfer Beobachter. Aber er hat einen Gegenstand gewählt, der nicht der Beobachtung wert ist.

Anschaulich und erlebbar wird die Spießigkeit und geistige Stumpfheit der DDR. Zwar leiden die Romanfiguren nicht an diesem Staat, sondern werden von ihm mitgetragen. Dennoch ist jeder von ihnen an einen Punkt gekommen, wo ihm die Zukunft abhanden gekommen. Nur Stammvater Wilhelm ist Stalinist sein Leben lang geblieben. Für eine Veränderung fehlen ihm schlicht die geistigen Voraussetzungen. Die nahtlos einsetzende Alzheimer-Erkrankung bleibt daher weitgehend unerkannt.

Das Buch zeigt die feinsten Risse selbst in der Schicht der uneingeschränkt Privilegierten. Ich als Leser frage mich aber, ob dies von irgendeinem Belang ist. Das Schicksal dieser Figuren ist eine gut ausgepolsterte Existenz, deren Bedeutung sich ihnen, aber auch mir nicht erschließen will. Sie gehören weder zu den Tätern noch zu den Opfer. Weder zum Vor noch zum Zurück leisten sie einen Beitrag.  

Vielleicht darf ein Buch, dass den Deutschen Buchpreis gewinnt, nicht unterhaltsam sein. Ich weiß es nicht. Es erfüllt sicherlich all die ausquotierten Erwartungen des Preiskommitees. Es ist deutsch (3.Oktober !!), kommt historisch bedeutend daher. Es ist stilistisch einigernmaßen anspruchsvoll und irgendwie tiefschauend. Die Erwartung der Preisgeber wurde wohl erfüllt. Meine Erwartung wurde nicht erfüllt.

Zugegeben, das Leben in der DDR ist den Westbürgern reichlich unbekannt. Einmal im Jahr am 3. Oktober wird Erinnern staatlich verordnet. Das ist sicherlich wenig. Eine Familiensaga aber schildert die menschlichen Veränderungen vor bewegtem historischen Hintergrund. Dazu eignet sich weder die DDR - die ja nun nicht mehr als ein Trabant Moskaus war - noch diese selbst für DDR-Maßstäbe nebensächliche und uninspirierte Familie.

Googlesuche: "Eugen Ruge In Zeiten des abnehmenden Lichts Ebook" ;)

Rezension: Christian Saehrendt - Die radikale Absenz des Ronny Läpplinger


Das 'Who is Who' der Lebensverlierer

Männer, nehmt euch zwei Flaschen von eurem Lieblingsbier beiseite, bevor ihr dieses Buch aufschlagt. Frauen, wenn ihr wissen wollt, wie Männer funktionieren, stellt euch einen Mann vor, der sich zwei Flaschen Bier gegriffen hat und nun mit königlichem Vergnügen dieses Buch liest.

"Ronny hatte sich mehrmals 'mit nichts' bei mehreren Kunsthochschulen beworben, und eine Mappe mit leeren Blättern, leeren Videotapes und komplett überbelichteten Fotos eingereicht."

Damit startet er ein hoffnungsvolle Karriere als Performancekünstler, die ihn von Böblingen nach Hamburg, London, New York und wieder zurück nach Böblingen führt. Nun wohnt er bei seiner Mutter und bezieht dort sein Jugendzimmer. Mit Fug und Recht kann er von sich sagen, dass er als Künstler komplett gescheitert ist. Er schlägt sich nun mit kunstgewerblichen Arbeiten durch. Er malt für Freunde und Freundinnen, er versucht sich im Heimatverein und sogar im Altersheim seiner Mutter.

Tiefpunkt ist die Ausgestaltung einer 'Wellness'oase: "Deko-Maler im Puff - kann man als Künstler noch tiefer sinken? Darunter kommt wohl nur noch der Straßenstrich, das heißt, auf einem Campingstuhl in der Fußgängerzone sitzen und für fünf Euro Karikaturenportraits zu zeichnen." Erst als er durch marrokanisches Dope und Campari benebelt sein Auto gegen einen Leuchtmast fährt, fällt er einen radikalen Entschluss.

Soweit der Inhalt von Ronnys Tagebuch, das von Freunden herausgegeben und kommentiert wird. Wie Ronny zugedröhnt oder benebelt durch die lokale Sammlerszene stolpert und den "Kunstbetrieb als selbstreferentielles System" entlarvt, ist urkomisch geschrieben. So trist und traurig das Leben, so lustig und komisch auf den Beinen ist unser zugedröhnter Traumtänzer. Sein schräger Blick auf seine Umgebung ist lebenserfahren und illusionslos. Immer wieder werden seine Beobachtung durch Anmerkungen seines Sohnes ("Kunst? Das ist doch irgendwie schwul.") und seiner Freunde unterbrochen.

Ronny macht sich und anderen nichts vor. Das ist nicht seine Art durchs Leben zu gehen. Einmal Perfomancekünstler, immer Performancekünstler - auch in Böblingen. Gerade als sich das Buch für den Leser und das Leben für Ronny zu ziehen beginnt, dreht der Autor richtig auf. Selten so ein schlüssiges und temporeiches Ende gelesen.

Sein Lebensmotto: Ein Mann darf alles, aber er darf niemals die Idee von seinem Leben verlieren. Dies ist die Grenze, die Ronny nicht bereit ist, dauerhaft zu überschreiten. Alle Männer in diesem Buch sind auf die ein oder andere Weise Verlierer an ihrem Lebenssinn geworden. Ob sie nun beim New York Marathon zusammenbrechen und von ihrer Frau überholt werden oder ob sie Beiwerk in einem Einrichtungskonzept sind - sie alle bleiben als Hülle ihrer selbst zurück.

Es ist ein philosophisches Buch über Männer geworden. Wichtiger als Frauen - und sogar Geld und Ansehen - ist den Männern, wie sie am Ende vor sich selbst dastehen. Zeigt der Spiegel einen Mann oder ist der Spiegel am Ende leer? Bei allem Spaß im Leben, dies ist die Frage, auf die in allem Ernst eine Antwort gefunden werden will.

Als Figur hat Ronny iel mit dem Fischer aus Hemingways "Der alte Mann und das Meer" gemein. Ein Fischer oder ein Künstler - egal - wird und darf alt werden, aber er darf nicht vor der letzten und größten Herausforderung zurückschrecken. Bei dem Fischer ist es der Fang seines Lebens, bei Ronny ... nun ja - habt ihr das Bier geöffnet? - dann lest einfach selbst!

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